Jahrbuch 2009 - Vorwort

Bernd Sösemann
 
Die seit längerem angekündigte Überarbeitung der Bachelor- und Master-Modelle hat in der Politik immer noch nicht die nötige Priorität erhalten. Eine grundsätzliche Debatte über die bildungspolitischen Inhalte und Ziele hatte es weder vor dem sogenannten  Bildungsgipfel von 2008 noch nach der Bildung der neuen Regierung gegeben. In allen Wahlkämpfen haben sich die Parteien wechselseitig mit Hinweisen auf die Bedeutung von Bildung und Ausbildung, Wissen und Kreativität in einem rohstoffarmen Land überboten. Man beschwor die hohen Ansprüche eines globalen Wettbewerbs und erklärte im ungewohnten Gleichklang, der Bildung gebühre Vorrang, sie sichere die Zukunft „unserer Kinder“ und des Staates. Doch der angekündigte entschlossene Ruck blieb aus. Ein entschiedener Wille zum Wandel scheint im Bund und in den Ländern nicht vorhanden zu sein. Die Schul- und Hochschulfinanzierungsprogramme sind prekär, die Ansätze zur Reform der Studienreform kommen über Trostpflaster in Form von partiellen Nachbesserungen nicht hinaus.

Verkommt die „Jahrhundertreform“ von Bologna im universitären Separatismus der Wissenschaften zum Flickwerk? Statt einer nüchternen Lageanalyse, die zu einer koordinierten und systematisch geplanten grundlegenden Reform nach der Reform in allen Bundesländern hätte führen können, kündigen jetzt die ersten Ministerpräsidenten Alleingänge an oder beschreiten sie bereits. Die Lage an den Universitäten und Fachhochschulen droht sich allein dadurch im kommenden Jahr weiter zu verschlechtern. Nicht einmal das schlimmste aller alten Leiden ist geheilt worden, die Verwaltung des Mangels. Die wachsende Drittmittelfinanzierung dominiert in einem Maß wie noch nie zuvor. Für Dozenten und Studierende werden die Verhältnisse zunehmend unübersichtlicher. Eine knappe Bestandsaufnahme ist bei weit über eintausend Studiengängen zwar nicht möglich, doch zeichnen sich folgende Gravamina deutlich ab. Die meisten der BA-Studiengänge sind zu schmal und inhaltlich überfrachtet, verschult und durch eine Vielzahl studienbegleitender Prüfungen überlastet. Eine unsinnig ausgedehnte Präsenzpflicht, ein unverantwortlicher Zeit- und Arbeitsdruck lasten auf Dozenten und Studierenden, rauben ihnen die Zeit zum selbständigen Erkenntnisgewinn und die Muße zum Lesen. Die anhaltende personelle Unterversorgung erschwerte die zu Recht geforderte intensivere Beratung und Betreuung der Studierenden oder machte sie sogar wegen der Vielzahl von Modulen und der Überfüllung von Lehrveranstaltungen unmöglich. An der Freien Universität Berlin hat jeder Professor es durchschnittlich mit mehr als 75 Studierenden zu tun; damit schneidet sie unter den neun Exzellenz-Universitäten am schlechtesten ab.  Der Wechsel des Studienorts ist schwerer als je zuvor einzuplanen, das empfohlene Auslandsstudium keinesfalls leichter geworden. Die Studiendauer hat sich nicht signifikant verkürzt, die Abbrecherquote ist in etlichen Fächern gestiegen, Tutoren- und Mentorenprogramme werden nicht umfassend aufgebaut. Die veröffentlichten Personalstatistiken verbergen, mit welchen völlig unangemessenen Mitteln die Lehre notdürftig aufrecht erhalten wird: Lehrstühle (ehemals C4-, jetzt W3-Professuren) werden zusammengelegt oder fallen weg; Professuren ohne die geringste oder mit unzureichender personeller, finanzieller und sächlicher Ausstattung werden geschaffen. Das Lehrdeputat ist generell angehoben geworden und die Vergütung für Aushilfen, also dringend notwendige Lehraufträge, völlig inakzeptabel; für neu geschaffene Lehrkräfte mit besonderen Aufgaben sind vierzehn, ja sechzehn Wochenstunden festgelegt.

Die Realität steht somit auch im zehnten Jahr des Bologna-Programms in einem schroffen Gegensatz zu den langjährigen Erklärungen der Ministerpräsidenten, Rektoren und Präsidenten, der Hochschulrektorenkonferenz und ganz besonders der Bundesbildungsministerin. In ihnen hat es geheißen, der Bologna-Prozess stelle einen wichtigen Beitrag zur Internationalisierung der deutschen Hochschulen dar, eröffne interessante Kombinationen von attraktiven Qualifikationen und eine flexiblere Verbindung zwischen Lernen, beruflicher Tätigkeit und privater Lebensplanung. Seit dem Protestsommer 2009 sind wenigstens die realitätsfernen Beschwörungen eines unmittelbar bevorstehenden Erfolgs verstummt. Fast ausnahmslos haben die kritiklosen Befürworter in kürzester Zeit nicht nur ihre lobpreisenden Gesängen zum Bachelor/Master-System eingestellt und sich sogar Anti-Bologna-Ressentiments bedient, sondern nicht minder hektisch versucht, sich den protestierenden Dozenten und demonstrierenden Studierenden verbal anzuschließen. Rechthaberei und Leerformeln, Ausreden und Absichtserklärungen beherrschen nun die öffentliche Diskussion. Eine integrative Erneuerung scheint in weite Ferne gerückt. Auf wenig seriöse Weise wird mit Statistiken hantiert, mit Sonderzuweisungen oder weiteren Exzellenzinitiativen von dem Tatbestand abgelenkt, da in den letzten Jahren nicht nur in Berlin die Grundfinanzierung so stark abgesenkt worden ist, dass die Betroffenen im „Normal“-Betrieb kaum mehr tun können als nach Notlösungen zu suchen. Nicht einmal die Einführung von Computer-Programmen („Campus-System“) hat Entlastung geschaffen, sondern den Arbeitssaufwand zusätzlich gesteigert und die grundständige Lehre erschwert. Auf eine wahre Bildungsinitiative von Bund und Ländern hoffen die Dozenten und Studierenden ebenso wenig wie auf ein angemessenes Rettungspaket für Lehre und Forschung, das zwangsläufig ähnliche Dimensionen haben müsste wie die den Banken und Unternehmen gewährten Unterstützungen. Für den verantwortlichen Redakteur von „Wirtschaft & Wissenschaft“ (Stifterverband der deutschen Wirtschaft) ist dagegen die Misere ganz einfach zu erklären: „Denn eine Gruppe an der Hochschule hat vom Recht auf Faulheit im Bologna-Prozess weidlich Gebrauch gemacht – die Professoren. (…) Sie haben die Reform spektakulär verbockt“ (Heft 4, 2009, S. 55). Nicht nur dort beherrschen Vorurteile und eine nicht geringe Portion an Unkenntnis die Debatte. Eigene Anschauung und kritische Distanz anstatt wohlfeiler hochschulpolitischer Redensarten sind vonnöten, um die Interessen der Beschwörer von „employability“ (Berufs- und Arbeitsmarktqualifizierung), Exzellenzinitiativen oder Elitewettbewerben, Ratings oder Evaluierungs-Prozessen, Arbeitsmarktqualifizierung und von qualitätsvoller Lehre nach „workloads“ (Zeitaufwand) erkennen und sich von ihnen unabhängig zu machen.

Die Reihe „Wissenschaft der Zukunft – Zukunft der Wissenschaft“ hat sich unter der Leitung des Kollegen Prof. Dr. Jochen Brüning vom Institut für Mathematik der Humboldt Universität mit dem Thema „Mathematik“ befasst. Wir begrüßen mit diesem Jahrbuch vier neue Kolleginnen und Kollegen. Am 31.12.2009 gehörten unserer Gesellschaft 351 Personen an; neben den 231 ordentlichen zählt sie 42 fördernde und 78 korrespondierende Mitglieder. Im vergangenen Jahr hatten wir den Tod von fünf Mitgliedern zu beklagen. Es handelt sich um die Kollegen Prof. Dr.-Ing. Manfred Fricke, Gerhard Jäger, Prof. Dr.-Ing. Dr. h.c. mult. Roland Kammel, Prof. Dr. Helmut Kewitz und Prof. Dr. Walter Schmithals.

Mit dieser 19. von mir betreuten Ausgabe unseres „Jahrbuchs“ – eine weitere, die 20. also, hat der verstorbene Kollege Bernfried Schlerath mit mir zusammen 1991 hergestellt – verabschiede ich mich anlässlich meiner Pensionierung als Hochschullehrer und damit auch als Herausgeber von den Mitgliedern der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft sowie von den Autorinnen und Autoren der letzten beiden Jahrzehnte. Mein herzlicher Dank geht an Frau Dr. Gisela Wolf in der Geschäftsführung, an Frau Claudia Delfs im Berliner Wissenschafts-Verlag und an  Frau Swea Starke in meiner Forschungsstelle AKiP an der Freien Universität Berlin. Sie haben mich in den letzten Jahren in der organisatorischen und redaktionellen Arbeit aufmerksam, sachkundig und freundlich unterstützt. Ein weiterer Wechsel wurde nötig und auf der Mitgliederversammlung am 1. März 2010 verkündet, denn Herr Prof. Dr. Uwe Puschner hat im vergangenen Jahr den „Adolf Harnack-Kreis“ letztmalig betreut. Mit dem Sommersemester 2010 übernimmt Herr Dr. Christian Wendt, Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, alleinverantwortlich die Leitung dieser Vortrags- und Diskussionsrunde. Ihm und auch meinen „Jahrbuch-Nachfolgern“ wünsche ich alles Gute!

Berlin, 8. Mai 2010