Jahrbuch 2008 - Vorwort

Wären die Universitäten Banken, so könnten hier vielleicht Worte der Begeisterung über ihre Rettung stehen. Doch offensichtlich lässt selbst die Opposition es zu, dass sich in Deutschland die anhaltende Krise im Bildungsbereich durch die unvorstellbar großen Volumina der Sanierungsprogramme für die Wirtschafts-, Finanz- und Bankenwelt weiter verschärft. Die Regierungsbeschlüsse zeigen, zu welchen Anstrengungen ein demokratisches Regierungssystem fähig ist, wenn Erkenntnis und Einsicht, Wille und Tatkraft vorhanden sind. Hoffentlich erzielen die Politiker die von ihnen und der Bevölkerung erwarteten Erfolge, haben sie die Komplexität der Materie ausreichend bedacht, sind also die Grundlagen und Folgen ihres Handelns umfassend und ausreichend kritisch geprüft worden. Haben doch erst vor wenigen Jahren die Entscheidungen von Bundes- und Landespolitikern beziehungsweise ihr Nichthandeln die günstigen Rahmenbedingungen für verantwortungslose Banker und Spekulanten geschaffen. 

Die ungeschminkte Lage wird wohl erst nach den Wahlen für den Bundestag zu erkennen sein. Die Politik dürfte dann noch weniger als je zuvor bereit sein, sich in den Bereichen Erziehung, Bildung und Ausbildung in einem größeren Umfang und kraftvoll zu engagieren, wenn bereits Naturschutz- und Klimaprogramme, Gesundheits- und Sozialwesen sich nicht angemessen werden finanzieren lassen. Die größte Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten und ein Umverteilungsprozess bedrückenden Ausmaßes offenbaren, wie wenig Markt und Politik momentan ausbalanciert sind. Bildungspolitiker sind in einem Wahljahr gegenüber Wirtschaftlobbyisten völlig machtlos. Anders sind die von wenig Weitsicht zeugenden punktuellen Eingriffe wie „Abwrackprämie“ oder Steuer-Geschenke nicht zu verstehen. Denn die freigebigen Maßnahmen werden nicht nur im akademischen Bereich von erhöhten Belastungen, neuen Sparrunden und gekürzten Zuweisungen begleitet. Die Verhandlungen der Universitätspräsidenten mit dem Berliner Senat über die Höhe der allernotwendigsten Mittelzuweisungen verlaufen entsprechend. Es hilft wenig und zerstört eher die Reste des Vertrauens, wenn Statistiken geschönt, auf politisch und propagandistisch aufwändig inszenierten Bildungsgipfeln nur allzu bekannte Versprechungen wiederholt, Bauvorhaben in Schulen und Hochschulen in hoch gepriesene „Bildungsförderungsmaßnahmen“ mit einbezogen werden. 

Die inneruniversitäre Situation hat sich außerdem durch die Zunahme von Wettbewerbsorientierung und Verwertungslogik weiter verschärft. Noch werden politische Versäumnisse und bürokratische Zwänge nicht nur von den Studierenden, sondern auch von den Dozierenden eher apathisch oder doch zumindest mit einer fast unheimlichen Gelassenheit hingenommen. Inzwischen droht die akademische Ausbildung in eine wachsende Abhängigkeit von Drittmitteln zu geraten. Die Steuerung durch konjunkturempfindliche Sponsoren wird zwar als bedenklich anerkannt, gleichwohl wird sie von der Universitätsleitung hingenommen, mit einkalkuliert, wenn nicht sogar gefördert. Doch wer kann in der fortschreitenden Ökonomisierung der Universität und in der Wegrationalisierung von Stellen und Dienstleistungen eine tragfähige Lösung sehen, wenn er die „Universität der Zukunft“ immer noch für mehr als nur eine Ausbildungseinrichtung unter anderen hält? Selbst positive Folgen des so genannten Bologna-Prozesses – Intensivierung der Beratung, thematische Differenzierung und Konzentration der Studieninhalte – sind gefährdet, weil ein finanzieller und personeller Abbau eingesetzt hat, der zwangsläufig auch mit einer partiellen intellektuellen Reduzierung verbunden ist. Waren die Grundzuweisungen an die einzelnen Arbeitsbereiche auch bislang nicht einmal um den jeweiligen Inflationsausgleich erhöht worden, so blieben sie in ihren Schrumpfformen wenigstens unangetastet. Nun werden sie zur Finanzierung von Telefongesprächen, Internetanschlüssen und Kopien aufgebraucht. 

Der Rechtfertigungsdruck auf die verantwortlichen Politiker wird wachsen, denn die Bildungsinvestitionen liegen in Deutschland weiterhin noch unter dem Durchschnitt westlicher Industrieländer. Die Bundesregierung will 6 Milliarden bereitstellen; die Hochschulrektorenkonferenz belegt einen weitaus höheren Bedarf und fordert mehr als das Doppelte allein zur Milderung der aktuellen Notsituation. Bundesministerin Schavan und auch der Berliner Finanzsenator lehnen aber Budgetsteigerungen in entsprechender Höhe ab. Die BA-MA-Reform strapaziert die Dozierenden mit einem erheblich gestiegenen Verwaltungsaufwand, beschäftigt sie mit Formularen und Netz-Eingaben oder mit Modularisierungsdetails. Die neuen Studiengänge mit ihrer dichten Prüfungsfolge lassen den Studierenden kaum noch Zeit für Sprachstudien, zum Entdecken produktiver „intellektueller Nebenwege und Abenteuer“, für (Auslands-)Praktika oder zum Hinzuverdienen. Die „Kreditanstalt für Wiederaufbau“ entschärfte die finanzielle Lage der Studierenden in den vergangenen Monaten nicht, sondern verschlechtert sie sogar durch dilettantische Entscheidungen. Zwar hat sie kürzlich publikumswirksam verkündet, sie habe ihre Kredite um 0,5 % gesenkt, aber verschwiegen, dass sie erst kurz zuvor eine Erhöhung um mehr als 0,7 % durchgesetzt hatte. Mehr als 500 Milliarden hat die Bundesregierung allein den Banken zugesagt. Ein Konjunkturpaket „Bildung“ wird es aber nicht einmal im untersten zweistelligen Milliardenbereich geben. Wird in Bildung nicht permanent angemessen investiert, erhöht sich der Anteil gering oder mäßig Ausgebildeter und steigen bereits in der nächsten Generation die Sozialausgaben. 

Eine andere, nicht minder tief greifende Entwicklung verläuft nahezu parallel. Denn mitten in der finanziellen Krise führen Kulturminister und Senatoren ihre Pläne zur Umstrukturierung der Universitäts-/Hochschullandschaft weiter fort: seien es außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, interuniversitäre Forschungseinrichtungen von unterschiedlichem Autonomiestatus oder Exzellenz-Stätten aller Art. Reform der Reform als Dauerzustand. Nicht kurzatmige organisatorische Basteleien, sondern eine verlässliche Planung sind dagegen erwünscht. Wann sollen die tief greifenden Veränderungen der letzten Jahre erfolgreich umgesetzt, kritisch begleitet und verbessert werden? Wann wird es das fachlich qualifizierte Personal in ausreichender Anzahl geben? Die Erhöhung der Lehrdeputate im Windschatten von abgesenkten BA-Anforderungen ist dem Niveau der akademischen Lehre abträglich. Soll die Universität langsam in zwei Lager auseinanderdriften oder sogar möglichst schnell aufgebrochen werden? Welche Zielsetzungen verfolgen die „Bologna-Follow-up-Groups“? Hier die Exzellenzbereiche der Forschung mit optimaler Ausstattung und Spitzengehältern, dort die personell und finanziell schlecht versorgten BA- und MA-Angebote für die Abfertigung von Massen durch wenige und gering besoldete Dozenten auf der Stufe einer nochmals abgesenkten W-Klasse? 

Akademische Bildung und Weiterbildung sind Fragen des Überlebens, vor allem in alternden Gesellschaften. Sozialpolitik im 21. Jahrhundert muss Bildungspolitik sein. Bildungsgipfel mit Parolen wie „Bildung ist Chefsache“ haben wir hinter uns, ohne dass sie zu einer Bildungsbewegung jenseits von Sonntagsreden, außerhalb von Kommissionssitzungen und preiswerten Preisverleihungen geführt haben. Bildung wird auf die eine oder andere Weise zur sozialen Frage des 21. Jahrhundert werden. Nachdem die von den Politikern ausgerufene „Bildungsgesellschaft“ sich als Wahngebilde entpuppt hatte, wurde von ihnen unter der Bulmahn-Parole „Brain up“ die „Informationsgesellschaft“ propagiert, die heute etwas bescheidener „Bildungsrepublik Deutschland“ genannt wird. Doch auch hierbei dürfte es sich wohl ebenfalls nur um ein neues wohl tönendes, aber ohne Konsequenzen bleibendes Wort handeln. Ein salopp daher kommendes „Job-Center“ vermag schließlich auch nicht mehr zu leisten als ein gut geführtes „Arbeitsamt“. 

Quo vadis universitas? Präsidialämter und Fachbereichsverwaltungen benötigen rechtzeitig Informationen und Anregungen zugleich, damit sie nicht erst durch eine inneruniversitäre Krise aufgeschreckt und zu überstürztem Handeln gezwungen werden. Die Verantwortlichen sollten entsprechend umsichtig und sparsam zum Wohl der Institution mit ihren Lehrenden und Studierenden verfahren, denn daraus leitet sich die Existenzberechtigung ihrer Verwaltung vorrangig ab. Nur der Gebildete und gut Ausgebildete kann seinen Lebensweg angemessen mitbestimmen. Bildung und Ausbildung sind heute nur mit Milliardenbeträgen zu finanzieren. Fallen die Investitionen zu gering aus, werden später weitaus größere benötigt. 

Das Jahrbuch kann erscheinen, weil mich während seines Entstehungsprozesses zwei Damen umsichtig und zuverlässig unterstützt haben: Claudia Delfs im Verlag und Swea Starke an der „Arbeitsstelle für Kommunikationsgeschichte und angewandte Kulturwissenschaften“. Ihnen und allen Autorinnen und Autoren danke ich herzlich.

Berlin, 28. April 2009
Bernd Sösemann